Weitere Themenfelder zur Weiterentwicklung des Morbi-RSA erfordern zunächst entsprechende Analysen und ggf. Datenerhebungen, bevor eine Anpassung vorgeschlagen werden kann. Hierzu gehören

 

  • Zuweisungen für Krankengeld, sofern ein Modellvorschlag die Zuwei-sungsgenauigkeit verbessert (Gibt es dafür ein intelligenteres Modell?)
  • Zuweisungen für Verwaltungskosten, das heißt ein Verteilungsschlüssel mit stärkerer Morbiditätsberücksichtigung
  • Aufhebung der gesetzlichen Beschränkung bei der Anzahl der Krank-heiten (bisher 50 bis 80)

und die Fragen

  • Soll ein (Hoch-)Risikopool wieder eingeführt werden?
  • Soll der RSA um eine Regionalkomponente ergänzt werden (und wenn ja: wie sollte sie ausgestaltet werden)?
  • Wie sollen mit Zuweisungen für Versicherte im Ausland umgangen wer¬den?

 

Die BKK-Vorstandsvorsitzende Galle warnte allerdings vor zu kurz gedachten oder einseitige Anpassungen, die dem System nur schaden würden: durch ein Ungleichgewicht bei der Verteilung, Finanzrisiken für die Kassen, daraus resultierende Versorgungsrisiken und -unsicherheit für die Versicherten sowie Unsicherheit auf Seiten der Leistungserbringer. Dies könnte letztlich zum Verlust der Akzeptanz bzw. der Reputation der GKV führen.

 

Die Referenten waren sich - wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung - darüber einig, dass es keinen perfekten RSA gibt. Vielmehr sei eine kontinuierliche Beobachtung und Verbesserung nötig. Es zeige sich, dass es einen hohen Bedarf an Weiterentwicklung gibt und dass das Interesse daran von vielen Seiten kommt: Kassenseite, Leistungserbringer, Versicherte/Patienten.

Dirk Göpffahrt bescheinigte dem gegenwärtigen RSA, dass er aus seiner Sicht trotz einiger Mängel – auch im internationalen Vergleich – ausgereift sei. Der RSA sei ein Instrument um Wettbewerb in der GKV zu ermöglichen. Und Wettbewerb sei ein Mittel um Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung zu erreichen. Priorität sollte daher die Schaffung von Wettbewerbsparametern haben. In der Diskussion wurde allerdings von mehreren Teilnehmern bezweifelt, dass der Morbi-RSA wirklich für mehr Versorgungsqualität und Versorgungsgerechtigkeit sorge. Auch wurde die Frage aufgeworfen, ob der Morbi-RSA nicht eher dem Erhalt zu vieler Krankenkassen und weniger einer qualitativ hochwertigen Patientenversorgung diene. Frau Galle wies darauf hin, dass es sich wohl inzwischen bestätigt habe, dass der Morbi-RSA Fehlanreize hinsichtlich Prävention und Gesundheitsförderung setzt. Leidtragende wären die Versicherten.

 

Sehr deutlich wurde Michalak mit Blick auf die Politik: Seit der Einführung des neuen Finanzierungskonstrukts „Gesundheitsfonds plus kassenspezifische Zusatzbeiträge“ sei alles Denken und Handeln der Krankenkassen primär darauf ausgerichtet, so lange wie irgend möglich keinen Zusatzbeitrag erheben zu müssen. Dieses Verhalten sei absolut rational – das belegten die hohen Mitgliederverluste von Kassen mit Zusatzbeiträgen 2010/2011 (inklusive zwei Kassenschließungen).

Die Konsequenz für die Krankenkassen sei daraus, alle Aktivitäten, die kurzfristig zu zusatzbeitragsrelevanten Ausgaben führen könnten, auf ein Mindestmaß zu begrenzen – insbesondere auch Investitionen in neue Vertrags- und Versorgungsformen, deren „Erträge“ im Hinblick auf Qualität und Wirtschaftlichkeit nicht unmittelbar eintreten

 

Und der AOK-Vorsitzende setzte noch eins drauf. Er las Jens Spahn die Leviten, der in einem Interview der Ärztezeitung 21.06.12 ausgeführt hatte: „Kassen haben doch große Freiheiten, wenn es um Art und Inhalt der Verträge geht. Sie nutzen diese Möglichkeiten leider nur viel zu wenig, ja geradezu fahrlässig wenig.“

Denn Spahn verkenne damit im derzeitigen System die Realitäten. Es sei nicht „fahrlässig“, dass die Kassen die bestehenden Selektivvertragsoptionen derzeit kaum nutzen, sondern – leider! – wettbewerblich rational. Und er wurde noch deutlicher: Eine Beibehaltung des Methodenfehlers des RSA werde langfristig zu einem „Innovationskiller“ bei Versorgerkassen anwachsen. Leidtragende seien die Versicherten.

 

Die in der Diskussion wiederholt angesprochenen Forderungen nach mehr Anreizen für Qualität, die beim Patienteankommt, und nach qualitätsorientierten innovativen Versorgungsverträgen bekamen in dieser Veran-staltung einen deutlichen Dämpfer.

Wie gerecht ist der Finanzausgleich in der Gesetzlichen Krankenversicherung?

Bericht vom Forum „Finanzausgleich“ der DGbV-Arbeitsgruppe Vertrags- und Finanzierungsmanagement am 22. August 2012 in der NEWSTAND-Management-Akademie Berlin

 

Wer profitiert vom Morbi-RSA und wer ist benachteiligt? Wie wirkt sich der Morbi-RSA auf die Versorgung der Patienten aus? Wie gerecht oder ungerecht Ist der Finanzausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung? Die Arbeitsgruppe Vertrags- und Finanzierungsmanagement der DGbV hatte am 22. August 2012 zu einem Forum eingeladen, um hierzu die Meinung von hochkarätigen Experten zu hören und mit Ihnen diese Fragen aus Sicht der Bürger, Versicherten und Patienten unter der Moderation des DGbV-Präsidenten Dr. Weatherly zu diskutieren. Als Referenten waren Dr. Dirk Göpffarth vom Bundesversicherungsamt, Frank Michalak, Vorstandsvorsitzender der AOK Nordost und Frau Andrea Galle, Vorstandsvorsitzende der BKK VBU, eingeladen worden.

 

Um das ernüchternde Fazit vorwegzunehmen, „Gerechtigkeit“, wie immer man diese auch definieren mag, ist nicht das Ziel des Morbi-RSA, sondern eine sachgerechte, sprich risikoadäquate Zuweisung von Finanzmitteln an die Krankenkassen, um deren Krankheitsstruktur besser als vor der Reform 2009, also zu Zeiten des „alten“ RSA, abzubilden. Der Gesetzgeber wollte, so Dirk Göpffahrt „...einen funktionsfähigen Wettbewerb zwischen Krankenkassen […] ermöglichen, der zur Verbesserung der Qualität der Versorgung [...] und der Wirtschaftlichkeit führt.“ (BT-Drs. 14/6432, S. 14). Er wies darauf hin, dass der Risikostrukturausgleich, wie die Bezeichnung schon sagt, „Risiken ausgleicht“, nicht etwa Ausgaben oder Aufwand und dass er nicht den Kosten der Krankheit, sondern dem finanziellen Risiko der durch Patientenzuordnung gebildeten Risikogruppen entspricht. Auch sollten die Zuweisungen auf der Ebene der Krankenkassen aber nicht auf der Ebene der einzelnen Versicherten möglichst zielgenau erfolgen.

 

Ein freier Wettbewerb würde risikoäquivalente Prämien voraussetzen. Da in der GKV Kontrahierungszwang und Verbot risikoäquivalenter Prämien gelten, entsprechen die Einnahmen der Krankenkassen nicht dem versicherten Risiko. Dies aber stellt einen Anreiz zur Risikoselektion dar. Vor 2009 lohnte es sich deshalb für eine Krankenkasse, wenn sie möglichst viele junge und gesunde Personen versicherte. Um dies weitgehend einzuschränken, simuliert der Morbi-RSA risikoäquivalente Prämien für die GKV.

 

Die BKK-VBU-Chefin Andra Galle zählte in dem Zusammenhang „zulässige Fragestellungen“ auf: Ist die Ausgleichssystematik sachlich und mathe-matisch korrekt? - Wenn das Modell korrekt ist, ist es auch gleichzeitig in der Realität anwendbar? - Kann ein Modell korrekt sein, wenn es unvollständig ist? – Sind nur 80 Krankheiten als Basis sachgerecht? - Kann das Rechenergebnis eines Modells in der Realität korrekt sein, wenn die Beschaffung der Datenbasis unter immensem Aufwand und in zu knappen Fristen erzeugt wird? Führt das nicht zur Fehleranfälligkeit? - Welche Auswirkung haben verschiedene Aufsichtsinstitutionen mit möglicherweise unterschiedlichen Auffassungen zur Einhaltung der Wettbewerbs- und Verfahrensregeln auf das Wettbewerbsinstrument?

Und sie wies auf folgende Problemkreise hin:

 

  • der Ursprungsgedanke basiert auf Solidarität, die Solidargemeinschaft ist aber unvollständig,
  • paritätische Beitragszahlung, aber die Arbeitgeber werden dabei entlas¬tet,
  • keine sachgerechte Berücksichtigung regionaler Unterschiede.

 

Auch unter den Bedingungen des „neuen“ RSA sind Versorgerkassen weiter im Nachteil, darüber waren sich die Kassenvertreter einig. Dazu führen auch exogene Faktoren auf der Nachfrageseite wie unterschiedliche Morbiditätsindikatoren und sozioökonomische Risikofaktoren (z.B. Anteil der Arbeitslosen und Migranten, Anteile der Versicherten nach Einkommens¬klassen und Bildungsniveau) sowie auf der Angebotsseite (z.B. kostenintensive medizinische Infrastruktur, staatliche Gebührenordnungen, Ergebnisse von Preisverhandlungen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern, Inanspruchnahmeverhalten).

 

Der Morbi-RSA ist als lernendes System angelegt und soll weiterentwickelt werden. In einem Gutachten, zu dem der Wissenschaftliche Beirat des Bundesversicherungsamtes 2010 beauftragt wurde, sollten weitere Entwicklungsfelder identifiziert werden sollten. Dieses Gutachten stellte anhand der Zahlen des Schlussausgleichs 2009 weiteren Korrekturbedarf fest. Eins der Probleme ist dabei der sogenannte „Methodenfehler“ bei den Zuweisungen für Verstorbene. Da die Zuweisungen an die Krankenkassen für diese Patienten nicht dem Versorgungsbedarf im Sterbejahr entsprechen, haben Krankenkassen mit einem hohen Anteil älterer Patienten, die im jeweiligen Sterbejahr höhere Kosten verursachen, einen Nachteil bei den zugewiesenen Finanzmitteln.

 

Eine Korrektur dieses Methodenfehlers bei der Ermittlung der Risikozuschläge für Krankheiten mit überdurchschnittlich hohem Sterberisiko müsse unbedingt sofort analog dem BVA-Entwurf zum Klassifikationsmodell 2013 vom 27.07.2012 erfolgen, forderte der AOK-Chef Michalak. Die Mehrheit der Krankenkassen könne sich dabei nicht beklagen. Das sei aber noch keine „Reform“. Einen Vergleich des Deckungsgrades mit und ohne Methodenfehler zeigt die Abbildung „Status Quo und Vergleich zum Jahr 2009 nach Alter und Geschlecht“.

 

 

 

 

 

 

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