Fünf Forderungen der Deutschen Gesellschaft für bürgerorientiertes Versorgungsmanagement (DGbV) für eine Neujustierung des deutschen Gesundheitswesens

 

Prognose

 

In den kommenden zehn Jahren wird sich die aktive und mitverantwortliche Einbindung der Bürger zu einer tragenden Säule des gesundheitlichen Versorgungsmanagements entwickeln. Gründe dafür sind die Zunahme chronischer verhaltens- und verhältnisabhängiger Volkskrankheiten, eine zu erwartende demografisch bedingte Verknappung der Ressourcen (personell und finanziell) sowie der Wunsch vieler Versicherter und Patienten nach mehr Souveränität und Information.

 

Die Entwicklung zu einem insofern mehr bürgerorientierten und von Bürgern mitgetragenen Gesundheitswesen bietet die Chance, weiterhin individuelle und kollektive Gesundheitsziele auf einem hohen Versorgungsniveau zu erreichen und finanzieren zu können. Erforderlich sind dazu neben der konsequenten Ausrichtung der Infrastruktur am Bedarf und den Bedürfnissen der Bürger eine Veränderung der Sichtweisen aller Beteiligten im Sinne einer bürgerorientierten Haltung, die Förderung der Gesundheitskompetenz der Bürger, deren Befähigung zum eigenverantwortlichen gesundheitlichen Handeln sowie ihre Beteiligung an sie betreffenden Entscheidungen auf allen Systemebenen.

 

Forderungen

 

In diesem Sinne fordert die Deutsche Gesellschaft für bürgerorientiertes Versorgungsmanagement (DGbV) verbindlich für alle Bürger und unabhängig von der Art der Versicherung:

 

1.Einführung des Unterrichtsfaches Gesundheitskunde

Das Unterrichtsfach „Gesundheitskunde“ muss vom ersten Schuljahr an in die Lehrpläne aufgenommen werden, zum Beispiel auch als regelmäßiger Bestandteil des Faches Biologie, wie dies beispielsweise in Baden Württemberg bereits der Fall ist.

 

2.Vergabe von öffentlichen Fördermitteln nur an bürgerorientierte Gesundheitsprojekte

Öffentliche Mittel dürfen nur an solche Gesundheitsprojekte fließen, in welchen Bürgerorientierung verankert ist. Gemeint mit Bürgerorientierung ist

  • eine an den Bedürfnissen der Bürger orientierte Haltung der Akteure,
  • die Förderung der Gesundheitskompetenz der Bürger und ihrer Befähigung zum eigenverantwortlichen gesundheitlichen Handeln,
  • sowie die Beteiligung von Bürgern an Entscheidungen auf allen Systemebenen (siehe auch Ausführungen in der Präambel).

 

3.Recht der Bürger auf valide Gesundheitsinformationen

Die Bürger sollen in ihrem Recht unterstützt werden, über grundlegende Tatsachen zur Erhaltung ihrer Gesundheit oder über ihre Krankheit informiert zu werden, damit sie informierte Entscheidungen über ihre Gesundheit auf der Grundlage der besten verfügbaren Evidenz treffen können.

 

4.Recht auf Förderung der Gesundheitskompetenz für chronisch Kranke

Gesetzlich muss allen Bürgern mit chronischen Erkrankungen das Recht auf umfassende Information und ein qualifiziertes Verhaltenstraining eingeräumt werden. Die Diagnostik und Therapie akuter und notfallbedingter medizinischer Ereignisse bleibt davon unberührt.

Die gesundheitliche Mitverantwortung der Versicherten ist bereits Bestandteil des § 1 SGB V. Da aber nicht alle Bürger in der Lage sind, diese Forderung ohne Hilfe zu erfüllen, sollen sie ergänzend ein Recht auf Förderung erhalten. Dies könnte sich zunächst auf die zehn wichtigsten chronischen Volkskrankheiten beziehen. Grundlage sollten evidenzbasierte und für Laien verständliche strukturierte Behandlungspfade und Behandlungsalternativen sein. Die Förderung der Patientenrolle kann beispielsweise in Modellversuchen mit routinemäßiger Inanspruchnahme einer Zweitmeinung (gefördert z.B. mit einem entsprechenden Gutschein) und qualifiziertem Coaching oder Case Management durch dafür ausge-bildete Fachkräfte erfolgen. Dabei sollten auch die Möglichkeiten moderner elektronischer Kommunikationstechnologien genutzt werden. Ein Controlling und die Evaluation derartiger Maßnahmen sind dabei zwingend vorzusehen.

 

5.Schulung der Gesundheitsberufe in Bürgerorientierung

Die Angehörigen der Gesundheitsberufe sollen systematisch in Bürgerorientierung geschult werden. Die DGbV entwickelt dazu einen Vorschlag für einen Schulungstag („DGbV Führerschein zur Bürgerorientierung“).

 

(Fassung der fünf Forderungen vom 26.09.2013)

 

 

Diese Forderungen unterstützende Texte

 

Zu Forderung 3: Gerd Gigerenzer und J. A. Muir Gray (2013) in „Bessere Ärzte, bessere Patienten, bessere Medizin“. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin, S. 27:

„Staatsbürger haben das Recht, die grundlegenden Tatsachen zu kennen, und sie haben eine Verantwortung, Entscheidungen über ihre Ge¬sundheit auf der Grundlage der besten verfügbaren Evidenz zu treffen.“

 

Zu Forderung 3 und 4: Sondergutachten 2012 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, Wettbewerb an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Gesundheitsversorgung (Kurzfassung Seite 45 ff): 3.3 Stärkung der Nutzerkompetenz als Voraussetzung eines zielführenden Wettbewerbs.

 

Zitate daraus:

 

„80. Nutzerkompetenz ist auch eine Voraussetzung, um neben Leistungserbringern und Kostenträgern als "dritte Kraft" zu wirken. Dazu benötigen die Patienten/Nutzer Information und vor allem Informations- und Medienkompetenz. Diese Voraussetzungen sind im Gesundheitswesen bislang nur lückenhaft erfüllt. Zugleich ist der Bedarf an Information und Kompetenzstärkung von Patienten und Nutzern durch die veränderte gesundheitliche Bedarfslage der Bevölkerung - ausgelöst durch die demografische Alterung und besonders die Zunahme und Veränderung der Gestalt- und Verlaufsmuster chronischer Krankheiten - gestiegen. Hinzu kommt, dass sich das Verständnis der Patientenrolle deutlich gewandelt hat. Patienten gelten nicht mehr nur als passive Leistungsempfänger oder als "Laien", sondern als Akteure und aktive Mit-Produzenten von Gesundheit, denen ein konstitutiver Part im Behandlungs- und Versorgungsgeschehen zugesprochen wird und deren Präfe¬renzen bei der Auswahl von Gesundheitsleistungen als wichtig angesehen werden.“

 

„93. Sinnvoll ist darüber hinaus, die Patientenbildung/-edukation und Kompetenzförde¬rung auszubauen, denn Information und Beratung reichen vor allem bei chronisch Erkrankten, aber auch bei den ebenfalls zu Nutzern gehörenden Angehörigen kranker oder hilfe- und pflegebedürftiger Menschen nicht aus. Um kompetent die oft jahrelangen Verläufe chro-nischer Krankheiten zu bewältigen, dabei das eigene Leben, den Alltag und die Krank¬heit zu managen und verantwortungsvoll die vielen Entscheidungen (unter Unsicherheit) treffen zu können, werden Patienten und ihren Angehörigen neben Information und Wissen unterschiedlichste Kompetenzen abverlangt. So werden etwa konkrete Fertigkeiten zum Umgang mit Behandlungsvorgaben, Ernährungsvorschriften oder der Handhabung der Medikation etc. benötigt. Zugleich sind umfangreiche Kenntnisse über Krankheitszusammenhänge, Symptomanzeichen und -verläufe erforderlich, um vermeidbaren Krankheitszuspit-zungen und Krisen zu entgehen, Restabilisierungsprozesse zu befördern, zur Aufrechterhaltung bedingter Gesundheit und relativer Stabilität beizutragen und vorzeitige Abwärtsentwicklungen und Funktionsverluste zu verhindern. Patientenbildung hat daher sowohl für die Unterstützung des Selbstmanagements und der dazu nötigen Fähigkeiten als auch für den Erwerb von Kompetenzen für ein adäquates Nutzungshandeln im Versorgungswesen einen hohen Stellenwert. Im Bereich der Rehabilitation hat diese Erkenntnis inzwischen breitenwirksam Niederschlag gefunden. In vielen anderen Bereichen des Gesundheitswesens besteht Entwicklungsbedarf. Der Rat begrüßt daher Initiativen wie die Gründung von Patientenuniversitäten, mit denen die Patientenbildung/-edukation in Versorgungsinstitu-tionen um wichtige Bausteine ergänzt wird. Er empfiehlt, diese Entwicklung zu fördern und zu evaluieren und sie mit der institutionalisierten Patienten-/Nutzerinformation und -beratung zu verknüpfen. Er regt außerdem an, die Entwicklung und Umsetzung neuer Konzepte und didaktischer Strategien zu befördern. Denn trotz entgegengesetzter Proklamation basiert Patientenbildung vielfach noch auf herkömmlichen Strategien der "Schulung", also der Aufklärung und Wissensvermittlung und schenkt der Kompetenzförderung, also der Vermittlung von (Problemlösungs-)Fähigkeiten und Fertigkeiten zum eigenverantwortlichen Umgang mit Gesundheit und Krankheit, zur Selbstmanagementförderung und zum Empowerment zu wenig Beachtung. Oft werden die zuletzt genannten Konzepte vor allem als theoretische Begründungsrhetorik herangezogen, kennzeichnen aber nicht das Praxishandeln. Viele Konzepte folgen zudem vornehmlich der Outsider-/Expertenperspektive und schenken der Patientenperspektive und den sich aus Sicht der Erkrankten stellenden Problemen zu wenig Aufmerksamkeit. Auch die international vorliegenden Erkenntnisse über Merkmale und Wirksamkeit patientenfokussierter Interventionen bedürfen hierzulande stärkerer Berücksichtigung. Ähnliches gilt für vorliegende Erkenntnisse dazu, in welchen Phasen des Krankheitsverlaufs welche Interventionsart angezeigt ist, wann etwa Patienten und Nutzer aufnahmebereit für Information sind, wann sie für Bildung und Edukationsangebote aufgeschlossen sind und in welchen Phasen sie eher protektive Unterstützungsstrategien benötigen.

Schließlich bedarf intensiverer Beachtung, dass ressourcenschwache Patientengruppen neben Information und Bildung ergänzend Begleitung, Coaching und Case Management benötigen - Interventionsstrategien, die in den letzten Jahren vermehrt Eingang in den Versorgungsalltag gefunden haben, aber einer noch breitenwirksameren Basis bedürfen. Zudem ist gerade mit Blick auf diese Nutzergruppe erforderlich, die Information und Beratung durch die Gesundheitsprofessionen zu verbessern.“

 

„94. Vor allem für die Kostenträger wie auch für viele Leistungsanbieter sind Patienten-/ Nutzerinformation und -beratung zu einem wichtigen Wettbewerbsfaktor geworden. Diese Entwicklung dürfte sich künftig fortsetzen, sodass diesem Segment des Gesundheitswesens auch künftig hohe Aufmerksamkeit zu schenken ist. Neben der Förderung der Qualität, Forschung, Integration und Nutzerfreundlichkeit wird künftig zu beachten sein, dass Wettbewerb hier nicht der alleinige Regelungsmechanismus sein kann. Vielmehr bedarf es einer gemeinsamen, abgestimmten Initiative der von Partikularinteressen unabhängigen Träger der Patienteninformation, um die erheblichen Lücken in der Patienteninformation durch qualitativ gute, abgestimmte Angebote zu schließen und so den Qualitätswettbewerb zu fördern.“

 

Weitere Quellen

 

Gutachten 2000/2001 des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit, Kurzfassung, Seite 22, Tabelle 2: Neue Regeln für das System der Gesundheitsversorgung im 21. Jahrhundert

 

DGbV-Stellungnahme (2012): Die DGbV fordert gesetzlichen Anspruch auf Förderung von Patientenkompetenz - Denn bürgerorientiertes Versorgungsmanagement im Gesundheitswesen nützt allen. Auf der DGbV-Website:

http://dgbv-online.de/positionen/kommentar-zur-vision-und-mission.html

 

Pressemitteilung der DGbV (6. Dezember 2012): Patientenrechtegesetz ohne Förderung von Patientenkompetenz - Vieles bleibt blanke Rhetorik. Auf der DGbV-Website: http://dgbv-online.de/ver-ffentlichungen/dgbv-pressemitteilungen/pm-patientenrechtegesetz.html

 

Andreas Meusch in RPG, Band 19, Heft 2, 2013: Nach dem Patientenrechtegesetz ist vor der Diskussion um die Patientensouveränität

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